Diagnosecodierung kann zu Missverständnissen in der elektronischen Patientenakte führen
Seit der Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) für alle Versicherten sind Krankenkassen verpflichtet, die Abrechnungsdiagnosen von Arzt- und Psychotherapiepraxen und anderen Gesundheitseinrichtungen in die ePA einzustellen.
In diesem Zusammenhang gibt es Berichte, dass Patientinnen und Patienten erstmals durch Einsichtnahme in ihre ePA von Diagnosen erfahren, die ihnen bis dahin unbekannt waren. In Einzelfällen kann die Dokumentation bestimmter Diagnosen sogar Nachteile für betroffene Patientinnen und Patienten mit sich bringen, z. B. beim Abschluss privater Kranken-, Lebens- oder Berufsunfähigkeitsversicherungen.
Wenn Patienten Diagnosen korrigiert haben möchten, müssten sie sich an den behandelnden Arzt wenden. Die KVBW kann keine Korrekturen vornehmen.
Angabe der Diagnose gesetzlich vorgeschrieben
Jeder Arzt oder Psychotherapeut muss gesetzlich zwingend eine oder mehrere Diagnosen angeben, die den Behandlungsanlass bestmöglich beschreiben. Sonst kann eine Leistung nicht abgerechnet werden.
Ebenso sind die Diagnosen verpflichtender Bestandteil von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen („Krankmeldungen“). Die Diagnoseerhebung und -dokumentation ist damit keineswegs nur für die Behandlung wesentlich, sondern spielt auch im Regelwerk des Gesundheitssystem eine zentrale Rolle.
Über 12.000 verschiedene ICD-10-Schlüssel
Die Diagnoseangabe erfolgt durch Verwendung der internationalen ICD-10-Codierung (International Classification of Diseases). Hierbei handelt es sich um einen siebenstelligen Buchstaben- und Zahlencode, der aus einer Gesamtzahl von über 12.000 Codes ausgewählt werden muss. Das Verzeichnis der ICD-Klassifikation ändert sich zudem einmal jährlich mit rund 50-150 neuen ICD-Codes und 30-50 gestrichenen oder zusammengeführten Codes. Oft entsprechen die in der ICD-Klassifikation verwendeten Begrifflichkeiten auch nicht genau der praxisüblichen Terminologie, was Schwierigkeiten in der Umsetzung bringt. Insgesamt werden in Deutschland pro Jahr mehr als 1 Mrd. ICD-Codes erzeugt. Damit passieren erwartungsgemäß auch Fehler.
Die KVBW überprüft im Rahmen der Abrechnungsprüfung die Diagnosen auf Plausibilität. Anhand von Stichproben prüft die KVBW zudem über die Behandlungsdokumentation, dass die Leistung tatsächlich erbracht wurde.
Hinweise auf systematische Fehlhandhabung liegen bei der KVBW nicht vor.
Codes liefern zusätzliche Informationen
Für die Patientinnen und Patienten kommt noch erschwerend hinzu, dass die ICD-Codes noch Informationen enthalten, die über die eigentliche Diagnose hinaus gehen. Denn die Codierung zeigt auch an, ob die Diagnosen gesichert und damit für den Arzt endgültig sind oder ob es sich lediglich um einen Verdacht handelt, der Anlass für den Arztbesuch war, sich aber nicht bestätigt hat. Weiter werden auch Diagnosen gekennzeichnet, die der Arzt ausschließt und sogar der Wegfall eines Symptoms nach einer früheren Erkrankung wird angegeben.
Für ärztliche Behandlung ist weiter die Kenntnis sogenannter Dauerdiagnosen von Bedeutung. Es handelt sich hierbei um Diagnosen aus der Krankengeschichte eines Patienten, die für die weitere Behandlung auch künftig von Relevanz sein können. Oft stammen bestimmte Diagnosen bereits aus dem Kindesalter, so dass Versicherten eine entsprechende Vorbehandlung selbst nicht mehr in Erinnerung ist, sich die Diagnose aber in der Praxis-EDV des Arztes und damit auch in der Leistungsabrechnung fortpflanzt. Viele Versicherte werden sich nicht immer an alle vergangenen Behandlungsanlässe und die damaligen Diagnosen erinnern.
Die Angabe solcher Diagnosen kann für die Leistungsabrechnung relevant sein, auch wenn im jeweiligen Behandlungsquartal primär ein anderer Behandlungsanlass bestand.
Zahl der Diagnosen mit psychischem Hintergrund steigt
Besonderes Erstaunen löst bei Patientinnen und Patienten eine psychosomatische oder psychosoziale Diagnose aus. Viele Erkrankungen werden nachgewiesenermaßen durch psychische Zusammenhänge beeinflusst, die Häufigkeit psychischer Erkrankungen als Ursache für Arbeitsunfähigkeit ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Seit vielen Jahren wird daher von Ärzten gefordert, derartige Zusammenhänge besser in Diagnostik und Therapie zu berücksichtigen. Wenn entsprechende Leistungen erbracht werden, ist zwingend mindestens eine Verdachtsdiagnose aus der Gruppe dieser Erkrankungen erforderlich. Damit steigt die Zahl der angegebenen Diagnosen mit einem psychischen Hintergrund, auch wenn sich ein solcher Zusammenhang letztendlich nicht bestätigt, und auch, wenn das für die Patienten zunächst nicht bewusst ist.
Das kann beispielsweise dazu führen, dass der Patient wegen Rückenschmerzen zum Arzt geht. In die Codierung fließt aber schließlich neben den Schmerzen zusätzlich eine rückenschmerzverstärkende Belastungssituation am Arbeitsplatz ein.
Diagnosecodes sind ebenfalls erforderlich, um die Verordnung von Medikamenten zu rechtfertigen. Denn eine Verordnung ohne zur Zulassung des Medikaments passenden Diagnosecodes führt in vielen Fällen zu einem Regress für den Arzt.
KVen fordern Bürokratieabbau
Die durch die ePA erzeugte Behandlungstransparenz kann also aus vielen Gründen auch zu Missverständnissen und Risiken im Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Arzt führen. Diagnosecodierung im Zusammenhang mit Abrechnungs- und Wirtschaftlichkeitsprüfung ist außerdem ein gutes Beispiel für Überkontrolle und Überbürokratisierung unseres Gesundheitswesens. Die KVen fordern dahingehend rasche Entlastungen der Praxen durch Bürokratieabbau.