Historie
Geschichte ärztlicher Selbstverwaltung und der KVBW
In der Anfangsphase der gesetzlichen Krankenversicherung konnten die Kassen die Bedingungen, zu denen die Ärzte zu arbeiten hatten, nahezu beliebig bestimmen. Jeder Arzt war auf privatrechtliche Dienstverträge mit den Kassen angewiesen und damit weitgehend von ihnen abhängig. Mit den Kassenärztlichen Vereinigungen erhalten die Ärzte in der Zeit der Weimarer Republik eine starke Vertretung mit öffentlich-rechtlichem Status, die ihre Position in den Verhandlungen mit den Kassen stärkt.
Es war nicht immer so, dass kranke Menschen überall einen Arzt in ihrer Nähe fanden und dort eine Behandlung nach dem aktuellen Stand des medizinischen Fortschritts erwarten und sich auch leisten konnten. Erst Bismarck schuf mit Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung 1883 den heute ältesten Teil unseres Sozialsystems. Aber Bismarck hatte es versäumt, das Verhältnis zwischen Krankenkassen und den Kassenärzten zu regeln. Schlecht für die Mediziner, denn die Kassen konnten nach eigenem Ermessen Zahl und Person der Ärzte bestimmen und obendrein noch festlegen, zu welchen Konditionen diese zu arbeiten hatten.
So kam es, dass über viele Jahre hinweg die unmittelbare Abhängigkeit von den Krankenkassen für die Ärzte wie ein Damoklesschwert über ihrer Tätigkeit hing.
Um ihre Position gegenüber den Kassen wirksamer vertreten zu können, gründen die Ärzte 1900 den Leipziger Verband, den späteren Hartmannbund. Viel geholfen hat es nicht. Streikähnliche Auseinandersetzungen zwischen Kassen und Ärzten lähmen die Versorgung der sozialversicherten Bevölkerung. Mit dem Berliner Abkommen von 1913 und der Verordnung über Ärzte und Krankenkassen zehn Jahre danach, soll der soziale Friede gesichert werden. Aber die Rezession macht einen Strich durch die Rechnung. Die Notverordnungen von 1930 berechtigen die Kassen erneut, Einzelverträge mit Ärzten ihrer Wahl abzuschließen. Der Existenzkampf beginnt von vorn.
Eine Notverordnung vom Dezember 1931 schafft die KVen
1931 wird die Interessenvertretung der Kassenärzte gegenüber den Krankenkassen einer Körperschaft des öffentlichen Rechts übertragen. Ihr Name: Kassenärztliche Vereinigung. Doch der Nationalsozialismus ersetzt die neugewonnene Autonomie durch das so genannte Führerprinzip. 1949 erfolgt mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland auch die Neuordnung der gesetzlichen Krankenversicherung. Gesetzlich garantierte Selbstverwaltung inklusive.
Der Wiederaufbau der ärztlichen Selbstverwaltung steht im Zeichen eines endgültigen Interessenausgleichs zwischen Kassenärzten und Krankenkassen. Anstelle des Einzelvertrages tritt der Gesamtvertrag und die Gesamtvergütung mit den Kassenärztlichen Vereinigungen als ausschließlichen Vertragspartnern. Die niedergelassenen Ärzte haben ihre erste gesetzlich verankerte Interessenvertretung. 1955 legt ein neues Kassenarztrecht den Grundstein zur Entwicklung eines modernen Gesundheitssystems. Diese Aufgabe geht an die KVen und definiert unsere Zuständigkeit so:
- Sicherstellung einer flächendeckenden ambulanten Versorgung
- Gewährleistung einer nach Gesetz, Vertrag und Richtlinien ordnungsgemäßen Durchführung der ärztlichen Tätigkeit
- Interessenwahrung der Kassenärzte gegenüber den Krankenkassen
Dem Aufbau eines beispielhaften und von hoher Qualität gekennzeichneten Gesundheitswesens in Deutschland steht nun nichts mehr im Wege.
Zur Zeit des Berliner Abkommens 1913 betrug die Verhältniszahl Kassenarzt zu Versicherten noch 1:100. Sie sinkt als gesetzlich vorgegebenes Zulassungskriterium schließlich auf 1:500 und fällt 1960 durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ganz. Es gilt die freie Zulassung. Allerdings nicht lange.
Im Laufe der folgenden zehn Jahre wächst die Zahl der Ärzte und ein neuer Begriff macht die Runde: Ärzteschwemme. Die ausgeglichene Versorgungsstruktur ist gefährdet. Die Verteilung der Ärzte auf Stadt- und Landgebiete gerät ebenso aus den Fugen wie das Verhältnis von Allgemein- zu Fachärzten. Gleichzeitig wächst der Leistungskatalog mit den finanziellen Möglichkeiten des Wirtschaftswunders um die Mutterschaftsvorsorge, die Krebsfrüherkennung, die Früherkennung für Säuglinge und Kleinkinder, die Rehabilitationsleistungen und den Zahnersatz. Innerhalb von fünf Jahren verdoppeln sich die Ausgaben der Krankenkassen. Von 29 auf 58 Milliarden D-Mark. Heiner Geißler spricht von der „Kostenexplosion im Gesundheitswesen“.
Das erste der so genannten K-Gesetze kommt. K wie Kostendämpfung. Bedarfspläne können jetzt nur noch zusammen mit den Krankenkassen erstellt werden. Es folgt der Paradigmenwechsel von der ausgabenorientierten Einnahmepolitik zur einnahmenorientierten Ausgabepolitik. Das System verlässt das Versicherungsprinzip. Höchstbeträge für die Verordnung von Arzneimitteln werden eingeführt, Verordnungsgebühren, Preisvergleichs- und Negativlisten, neue Selbstbeteiligungsmodelle. Fantasie ohne Grenzen.
Es folgen die Jahre der unablässig neuen Gesetze, um die Ausgaben in den Griff zu kriegen. Umsonst, denn die demografische Entwicklung in Deutschland macht alle Bemühungen zu Makulatur. Der Alterseffekt in der Krankenversicherung führt zu massiven Finanzierungsproblemen. Allein bei der Versorgung von Rentnern summieren sich die Ausgaben für Arzneimittel und Krankenhaus zu einem Posten, der die Beitragserhöhungen von zwölf Jahren verschlingt.
Das Gesundheitsreform-Gesetz soll dem Flickwerk permanenter Nachbesserungen ein Ende setzen und das deutsche Gesundheitssystem zu neuen Ufern führen: Neubestimmung der Solidarität, Stärkung der Eigenverantwortung, Nutzung der Wirtschaftlichkeitspotentiale, Modernisierung der Strukturen und eine Menge mehr. Patienten müssen jetzt mehr zuzahlen, die Eigenbeteiligung wird ausgedehnt, Richtgrößen für Verordnungen ersetzen die Höchstbetragsregelung. Ärzte, die das 55. Lebensjahr erreicht haben, werden nicht mehr zugelassen.
Beitragssatzstabilität wird zum höchsten Ziel erklärt. Tatsächlich sinkt 1989 der Beitragssatz auf das Niveau von 1983. Aber dann fällt die Mauer.
Das Vergnügen an den Segnungen des Gesundheitsreform-Gesetzes ist kurz. Ab 1991 gilt das Sozialgesetzbuch der alten Länder auch in den neuen. Dort waren vor dem 3. Oktober 1990 etwa 98 Prozent der ambulant tätigen Ärzte in Polikliniken und staatlichen Arztpraxen angestellt, nur 2 Prozent hatten eine eigene Praxis. Mitte 1991 sind davon bereits 64 Prozent als Kassenärzte niedergelassen, Ende 1993 schon 97 Prozent. In Zahlen: 18.000.
In einer Herkules-Aktion werden die Ärzte von den „alten“ KVen auf die unbekannten Anforderungen einer eigenen Praxis vorbereitet, Selbstverwaltung nach westlichem Vorbild eingeschlossen. In wenigen Jahren entsteht für 16 Millionen Menschen ein komplett neues Gesundheitssystem. Aber das Blümsche Reformwerk ist angesichts der galoppierenden Ausgabenentwicklung überholt. Der Staat zieht mit dem Gesundheitsstrukturgesetz von 1993 die Notbremse.
Kassenärzte heißen nun Vertragsärzte. Die übrigen Neuerungen geben kaum Anlass zur Freude: Ausweitung der staatlichen Aufsicht über die KV, strikte Begrenzung der Gesamtvergütung, Haftung der Ärzte bei Budgetüberschreitung, Zulassungssperren in überversorgten Gebieten.
Indes geht die Realität andere Wege. Die Menschen werden älter, ihr Bedarf an medizinischer Versorgung wächst quantitativ und qualitativ, technische und pharmakologische Innovationen verändern die Ausgabenstruktur im Gesundheitswesen dramatisch. Die Finanzierungsmöglichkeiten halten mit dem Leistungsbedarf nicht Schritt. Punktwerte sinken, Ärzte müssen mit 68 in Zwangspension gehen. Neu in der vertragsärztlichen Versorgung: Die psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten, sofern sie die Approbation besitzen und in das Arztregister eingetragen sind.
In den Jahren 2000 bis 2004 passiert eine Reihe von Gesetzen den Bundestag, die die Ausgaben im Gesundheitswesen deckeln sollen. Manches Gesetz hat sich überholt, noch bevor die Tinte trocken ist. So wird das Solidaritätsstärkungs-Gesetz von 1999 – auch als Vorschaltgesetz bezeichnet – 2000 durch das Gesundheitsreform-Gesetz erweitert. 2002 folgen das Gesetz zur Neuregelung des Risikostrukturausgleichs, das Arzneimittelbudgetablösungs-Gesetz, das Arzneimittelausgabenbegrenzungs-Gesetz und das Gesetz zur Einführung des diagnoseorientierten Fallpauschalensystems für Krankenhäuser. 2003 geht es weiter mit dem Gesetz zur Einführung des Wohnortprinzips und dem Beitragssatzsicherungs-Gesetz.
2004 tritt schließlich das GKV-Modernisierungsgesetz in Kraft. Dieses hat unter anderem zur Folge, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) als oberstes Organ der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Krankenhäusern und Krankenkassen gegründet wird.
Das GKV-Modernisierungs-Gesetz verpflichtet außerdem die vier regionalen KVen Nordbaden, Nordwürttemberg, Südbaden und Südwürttemberg zu fusionieren. Am 1. Januar 2005 entsteht die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) mit 20.000 Mitgliedern und rund 1.000 Beschäftigten Sie ist die zweitgrößte KV in Deutschland nach der KV Bayerns. Die Vorstände der ersten Legislaturperiode der KVBW sind: Dr. Achim Hoffmann-Goldmayer (Vors.), Dr. Wolfgang Herz (stv. Vors.), Dr. Gisela Dahl, Dr. Jan Geldmacher und Dr. rer. pol. Thomas Zalewski
2008 werden die Euro-Gebührenordnung und das Regelleistungsvolumen eingeführt. Die Höhe der neuen morbiditätsorientierten Gesamtvergütung (MGV) richtet sich nach dem Behandlungsbedarf der Versicherten.
2009 folgt die Einführung des Gesundheitsfonds. Das Prinzip: Die Beitragseinnahmen der Krankenkassen fließen mit Steuerzuschüssen in einen gemeinsamen Topf. Daraus erhält jede Kasse einen einheitlichen Beitrag pro Versichertem sowie einen Risikozuschlag, der von ihrer Versichertenstruktur abhängt.
Ebenfalls im Jahr 2009 wird in Baden-Württemberg der erste Vertrag zur Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) abgeschlossen. Die HZV wurde 2004 zunächst als Soll-Bestimmung eingeführt und 2007 dann in eine verpflichtende Vorschrift umgewandelt. Demnach müssen Krankenkassen ihren Versicherten eine besondere hausärztliche Versorgung als Wahltarif anbieten.
2011 wird auf Initiative einiger Kassenärztlichen Vereinigungen, darunter auch die KVBW, die Freie Allianz der Länder-KVen (FALK) gegründet. Ziel des Verbundes ist es, den Einfluss der KVen in den Bundesländern zu stärken. Ebenso in diesem Jahr: Die KVBW erhält einen neuen Vorstand – Dr. Norbert Metke und sein Stellvertreter Dr. Johannes Fechner, die der KVBW für zwei Amtsperioden erhalten bleiben werden. Neben dem neuen Vorstand werden nun auch zwei Geschäftsführerposten eingeführt. Dieses Amt übernehmen Susanne Lilie und Falk Lingen.
Mit dem 2012 in Kraft getretenen GKV-Versorgungsstrukturgesetz wird die Honorarverteilung wieder als Satzungsrecht der jeweiligen KV festgelegt. Der regionale Honorarverteilungsmaßstab muss seitdem nur noch im „Benehmen“ mit den Krankenkassen von der jeweiligen Vertreterversammlung der KV beschlossen werden. In der KVBW gibt es seitdem Zuschläge für besonders förderungswürdige Leistungen.
2014 startet die KVBW das Förderprogramm „Ziel und Zukunft“ (ZuZ), um die vertragsärztliche und vertragspsychotherapeutische Tätigkeit in Baden-Württemberg zu stärken. Mit finanziellen Anreizen wird in drohend rechnerisch unterversorgten Gebieten etwa die Gründung und Übernahme von Einzelpraxen und Kooperationen unterstützt.
Mit dem 2015 in Kraft getretenen GKV-Versorgungsstärkungsgesetz verpflichtet der Gesetzgeber die Kassenärztlichen Vereinigungen, Terminservicestellen einzurichten. Vor diesem Hintergrund führt die KVBW im Jahr 2015 die 116117 als Servicenummer für die Terminvermittlung bei Ärzten und Psychotherapeuten sowie als einheitliche Nummer für den Ärztlichen Bereitschaftsdienst außerhalb der Sprechzeiten ein.
2018 fällt der Startschuss für den telemedizinischen Service docdirekt, den Patienten in Baden-Württemberg per Telefon, Web oder App nutzen können. Die KVBW setzt hierfür als erste KV gemeinsam mit der Landesärztekammer eine Lockerung des Fernbehandlungsverbotes durch.
2019 tritt das Terminservice- und Versorgungsgesetz in Kraft. Schwerpunkt des Gesetzes ist der Ausbau der Terminservicestellen bei den Kassenärztlichen Vereinigungen. Zu diesem Zweck gründet die KVBW 2020 die KV SiS BW Sicherstellungs-GmbH als 100-prozentige Tochtergesellschaft. Die KV SiS BW übernimmt die Vermittlung des Ärztlichen Bereitschaftsdienstes und die Terminservicestelle – 24 Stunden pro Tag, sieben Tage die Woche.
In der Coronapandemie kommen zahlreiche neue Aufgaben auf die KVBW zu. So werden 2020 zusammen mit den Notfalldienstbeauftragten und den Kreisärzteschaften über 60 Corona-Abstrichstellen und Fieberambulanzen eingerichtet. Außerdem bestellt die KVBW Schutzausrüstung für Arztpraxen und verteilt diese an die Praxen. Zudem ernennt sie aus den Reihen ihrer Mitglieder Pandemiebeauftragte für alle baden-württembergischen Stadt- und Landkreise.
In der KVBW kommt es am 1. Januar 2023 zum Führungswechsel: Nachdem Dr. Norbert Metke und Dr. Johannes Fechner in den Ruhestand gehen, übernehmen Dr. Karsten Braun und Dr. Doris Reinhardt die KVBW-Führung.
2025 verknüpft die KVBW den telemedizinischen Service docdirekt mit dem Patientenservice 116117 und baut ihn zu einer digitalen Versorgungsplattform aus. Auf www.docdirekt.de können sich die Patienten online registrieren und selbst die strukturierte medizinische Ersteinschätzung, kurz SmED, durchführen. Anschließend werden sie in die für sie passende Versorgungsebene geleitet, beispielsweise in eine Videosprechstunde, eine Bereitschaftspraxis oder die Notaufnahme. Die Plattform ist 24 Stunden, sieben Tage pro Woche online verfügbar.